Ich weiß, wie Du Dich fühlst: Sind Narzissten so empathisch, wie sie von sich behaupten?

Narzisstische Menschen stellen sich in vielen Lebensbereichen als überlegen dar, so auch bei zwischenmenschlichen Eigenschaften wie
Empathie. Doch sind sie tatsächlich in der Lage, mitzufühlen und ihre Mitmenschen besser zu verstehen? Der Beitrag zeigt, dass es darauf ankommt, welche Art von
Narzissmus betrachtet wird und warum eine Unterscheidung zwischen Mitgefühl und Verständnis wichtig ist.

In den letzten Jahren häuften sich Erfahrungen und Berichte über „gefallene Stars“: Erfolgreiche Personen aus dem Showbusiness oder gehobenen Führungsetagen mit dem Image, charismatisch, einfühlsam und um das Wohl jedes Einzelnen bemüht zu sein, bei denen zu einem späteren Zeitpunkt hingegen Vorkommnisse des (Macht-)Missbrauchs, der zwischenmenschlichen Manipulation und der Kaltherzigkeit offenkundig werden. Betroffene sowie Außenstehende zugleich werden nach solchen Skandalen oft mit der Frage zurückgelassen, wie es der Person gelang, ein solch positives Bild aufrechtzuerhalten und andere Menschen emotional zu manipulieren. Sind solch narzisstische Personen überhaupt in der Lage, die Gefühlslage anderer Menschen nachzufühlen, oder nutzen sie die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen nur gezielt für ihre eigenen Zwecke aus? 

Bild 1: Erkennen narzisstische Personen, was wirklich in anderen vorgeht?

Im Gegensatz zur klinischen Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gilt
Narzissmus in der Psychologie zunächst als eine Persönlichkeitseigenschaft. Diese ist ähnlich wie
Intelligenz oder
Attraktivität normalverteilt, sodass jede Person ein mehr oder weniger hohes Maß an
Narzissmus aufweist. Unterschiede im
Narzissmus zwischen Personen werden zumeist mittels Fragebögen erhoben, bei denen Befragte unterschiedlichen Aussagen zustimmen können (z. B. „Ich bin ein außergewöhnlicher Mensch.“). Personen mit hohen Narzissmusausprägungen werden überwiegend negative zwischenmenschliche Eigenschaften nachgesagt: Sie seien egoistisch, manipulativ, kaltherzig und bereit, eigene
Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen. Gleichzeitig zeigen Studien, dass narzisstische Personen gerade kurzfristig sehr erfolgreich scheinen und durch ihr charismatisches und charmantes Auftreten andere Personen für sich und ihre Ziele gewinnen können (Leckelt et al., 2015). Kein Wunder also, dass andere sich von narzisstischen Personen durchaus angezogen fühlen können.

Inwiefern andere Personen manipuliert werden können, weil narzisstische Personen besonders empathisch sind, erforscht die Sozial- und Persönlichkeitspsychologie. Unter
Empathie kann man die Fähigkeit verstehen, das emotionale Empfinden einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen sowie nachfühlen zu können (Blair, 2005). Dieser Definition zugrundeliegend, werden zwei unabhängige Facetten der
Empathie voneinander unterschieden: kognitive und
affektive Empathie. Während
kognitive Empathie sich auf das Erkennen und Verstehen innerer Zustände von anderen Personen wie Emotionen oder Gedanken bezieht, beschreibt
affektive Empathie das Empfinden der gleichen oder einer sehr ähnlichen
Emotion einer anderen Person (Blair, 2005). Wenn ein nahestehender Mensch also tränenreich vom Ende seiner letzten
Beziehung spricht, könnten Personen mit hoher kognitiver
Empathie treffend beschreiben, dass dieser Mensch sich wohl traurig, enttäuscht und möglicherweise wütend fühlt. Personen mit hoher affektiver
Empathie empfinden dabei ebenfalls Traurigkeit, Enttäuschung oder Wut.

Zur Messung von
Empathie werden typischerweise Fragebögen verwendet (z. B. „Wenn mir das Verhalten eines anderen komisch vorkommt, versuche ich mich für eine Weile in seine Lage zu versetzen“). Während einige Fragebögen zwischen den Aspekten kognitive und
affektive Empathie unterscheiden, erlauben andere Fragebögen keine Unterscheidung zwischen den Facetten. Neben diesen subjektiven Einschätzungen stehen auch objektivere Maße zur Verfügung, z. B. ein Test, bei dem anhand von Bildern, die Gesichter mit unterschiedlichen Emotionen zeigen, die richtige
Emotion genannt werden soll.Bild 2: Mit Bildern emotionaler Gesichter kann Empathie objektiv gemessen werden.

Verschiedene Studien untersuchten mithilfe dieser Methoden den Zusammenhang zwischen
Narzissmus und kognitiver sowie affektiver
Empathie: Hohe Werte in
Narzissmus gehen tendenziell mit höheren Werten in kognitiver
Empathie und niedrigeren Werten in affektiver
Empathie einher (Di Pierro et al., 2018; Turner et al., 2019). Allerdings finden sich auch Befunde, die den beschriebenen Ergebnissen widersprechen. So konnte eine Studie keinen Zusammenhang zwischen
Narzissmus und
Empathie finden (Jonason & Krause, 2013), andere hingegen berichteten, dass narzisstische Personen bezüglich beider
Empathie-Facetten Defizite aufweisen (Vonk et al., 2013). Eine weitere Studie zeigte, dass sich Männer in Haft im Vergleich zu nicht straffälligen Männern als eher narzisstisch beschreiben (Hepper et al., 2013). Dieser Unterschied konnte statistisch durch Defizite in kognitiver und affektiver
Empathie erklärt werden: Hoch narzisstische Personen scheinen weniger empathisch zu sein, was laut den Forschenden potentiell im Zusammenhang mit Straffälligkeit und Inhaftierungen steht. Diese unterschiedlichen Studienergebnisse lassen an diesen Punkt vorerst kein endgültiges Fazit zum Zusammenhang zwischen
Narzissmus und den
Empathie-Facetten zu.

Eine kürzlich publizierte Studie versuchte nun, Licht ins Dunkel zu bringen (Urbonaviciute & Hepper, 2020). In einer sogenannten Metastudie fassten die Autorinnen die Ergebnisse von 93 Studien mit einer Gesamtstichprobe von über 32.000 Personen systematisch zusammen. Dabei zeigte sich, dass hoch-narzisstische Personen im geringem Maße weniger affektiv sowie kognitiv empathisch waren. Somit lässt sich nach aktueller Studienlage studienübergreifend festhalten, dass narzisstische Personen sowohl Schwierigkeiten damit haben, interne Zustände wie Emotionen oder Intentionen bei anderen Personen zu erkennen als auch ähnliche Emotionen zu empfinden. Sie geben an, Emotionen anderer Personen tendenziell schlechter zu erkennen und fühlen offenbar nicht das, was andere fühlen. Doch wie lassen sich die zuvor erwähnten Ungereimtheiten zwischen den verschiedenen Studienergebnissen erklären?

Zum einen muss eine wichtige
Differenzierung hinsichtlich
Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft vorgenommen werden, die bisher in vielen Studien vernachlässigt wurde. In den oben beschriebenen Studien wurde
Narzissmus nämlich als einheitliches
Konzept untersucht.
Narzissmus wird demnach als Persönlichkeitseigenschaft definiert, die durch eine übermäßig positive, unrealistische Selbstsicht geprägt ist. Heutzutage sind sich Expertinnen und Experten jedoch überwiegend einig, dass
Narzissmus mehrdimensional ist und somit aus mindestens zwei Facetten besteht: agentischer (nach Besonderheit strebender)
Narzissmus und antagonistischer (nach Überlegenheit strebender)
Narzissmus (z. B. Back et al., 2013).
Agentischer Narzissmus zeichnet sich dadurch aus, dass Personen sich aktiv um ein besseres Selbstbild bemühen. Dafür treten sie besonders charmant auf, streben nach Einzigartigkeit und verkörpern ein grandioses Selbstbild. Durch das selbstbewusste und –überzeugte Auftreten vermögen sie es, im Mittelpunkt zu stehen sowie andere Personen von sich zu überzeugen und deren Bewunderung zu erlangen.

Demgegenüber steht die Facette des antagonistischen
Narzissmus.
Antagonistischer Narzissmus zeichnet sich dadurch aus, dass Personen das positive Selbstbild gegenüber potentiellen Angriffen wie Kritik oder sozialer Zurückweisung von außen verteidigen. Auf der Suche nach der eigenen Vormachtstellung werten Personen mit hohen Werten in antagonistischem
Narzissmus andere Personen ab und treten ihnen aggressiv gegenüber, was häufig zu sozialen Konflikten führen kann. Diese zweidimensionale Konzeptualisierung von
Narzissmus bietet die Möglichkeit, mutmaßlich widersprüchliche Zusammenhänge genauer zu betrachten und zu differenzieren. So konnte gezeigt werden, dass Personen mit hohen Werten in agentischem
Narzissmus als charmant, kompetent und selbstbewusst beschrieben werden und bei anderen Personen insbesondere kurzfristig beliebt sind. Personen mit hohen Werten in antagonistischen
Narzissmus hingegen werden von anderen als aggressiv und eifersüchtig beschrieben. Sie leiden insbesondere mittel- und langfristig unter mangelnder Popularität bei anderen Personen. Doch wie äußern sich die Unterschiede zwischen den
Narzissmus-Facetten in der Fähigkeit, anderen Personen empathisch gegenüberzutreten?

Sobald agentische und antagonistische Facetten des
Narzissmus in Studien unterschieden werden, werden die Ergebnisse um einiges klarer. So zeigten zwei Studien, dass Empathiedefizite überwiegend auf die dunkle Facette (antagonistischen
Narzissmus) zurückzuführen sind (Burgmer et al., 2021), während die helle Seite (
agentischer Narzissmus) mit hohen Empathiewerten einhergeht (Fatfouta et al., 2015).

Zum anderen ist zu beachten, dass zuvor beschriebene Fragebogenstudien anfällig für fehlerhafte bzw. bewusst verfälschte Antworten sind. Beispielsweise könnten narzisstische Personen bei der Frage nach ihrer Empathiefähigkeit schlichtweg lügen, um sich in einem besseren Licht darzustellen. Darüber hinaus kann es insbesondere narzisstischen Personen an Selbsteinsicht mangeln, sodass die Aussagen im Fragebogen nicht mit dem beobachtbaren Verhalten der Person übereinstimmen. Daher ist unklar, ob narzisstische Personen tatsächlich empathischer als andere sind oder sich nur als empathisch beschreiben. Eine umfassende Studie greift diesen offenen Punkt auf und nutzt neben Fragebögen auch verschiedene objektive Aufgaben wie oben benannten Test zur Beschreibung emotionaler Zustände anhand von Bildern, Videos sowie Audioaufnahmen von Sprache (Mota et al., 2019). Die Studie mit 600 Teilnehmenden differenzierte nicht nur zwischen verschiedenen Narzissmusfacetten (agentischer und
antagonistischer Narzissmus), sondern auch erstmalig zwischen verschiedenen Empathiefacetten (u. a. kognitive und
affektive Empathie). Dafür wurden neben Fragebögen auch Tests eingesetzt, in denen Teilnehmende anhand von Bildern zwischen Emotionen anderer Personen unterscheiden mussten. Es zeigten sich starke Unterschiede zwischen den Konzepten des agentischen und antagonistischen
Narzissmus sowie zwischen selbstberichteten und objektiv mit Tests gemessenen Empathiefähigkeiten. Personen mit hohen Werten in agentischem
Narzissmus beschrieben sich selbst eher als empathisch, während Personen mit hohen Werten in antagonistischem
Narzissmus sich eher als wenig empathisch einschätzten. Betrachtet man jedoch die objektive Fähigkeit, Emotionen akkurat anhand von Bildern oder anderen Medien zu benennen, so nahm diese Fähigkeit ab, je höher der Punktwert in agentischem als auch antagonistischem
Narzissmus war. Dabei überschätzen narzisstische Personen sich bezüglich ihrer Empathiefähigkeit deutlich, wobei der Unterschied zwischen selbstbeschriebener und tatsächlicher Fähigkeit bei agentischen
Narzissmus größer war als bei antagonistischen
Narzissmus.

Zusammenfassend lässt sich studienübergreifend festhalten, dass narzisstische Personen Empathiedefizite aufweisen. Über viele Studien hinweg, schien bei Personen mit hohen Narzissmuswerten die
kognitive Empathie etwas weniger eingeschränkt zuBild 3: Narzisstische Personen wissen häufig nicht, was andere fühlen. sein als die
affektive Empathie. Genauere Differenzierungen zeigten zusätzlich, dass Personen mit agentischem
Narzissmus sich als wesentlich empathischer darstellen als sie tatsächlich sind, während Personen mit antagonistischem
Narzissmus ein eher akkurateres Selbstbild ihrer fehlenden
Empathie aufweisen.

Damit lässt sich die eingehende Frage tendenziell beantworten, inwiefern
Narzissmus zum Lesen fremder Gefühle und damit der Manipulation anderer Menschen befähigt. Basierend auf dem aktuellen Forschungsstand ist es vermutlich nicht der Fall, dass Personen mit narzisstischer
Persönlichkeit im Durchschnitt besser in der Lage sind, andere Personen gezielt zu manipulieren aufgrund ihrer Menschenkenntnis. Insgesamt zeigte sich eher, dass sich narzisstische Personen hinsichtlich ihrer Empathiefähigkeit wie in vielen anderen Bereichen überschätzen. Wir sollten uns demnach nicht darauf verlassen, dass sich jemand als empathisch beschreibt. In privaten Situationen bietet es sich insbesondere im Kontakt mit besonders charismatisch und selbstbewussten auftretenden Personen an, die eigenen Emotionen direkt mittels Ich-Botschaften zu benennen, anstatt davon auszugehen, dass die gegenüberstehende Person bereits weiß, wie es einem geht. In der Gesamtschau lässt sich festhalten, dass narzisstische Personen eher nicht durch besonders empathisches Verhalten dazu in der Lage sind, andere Personen manipulieren. Vielmehr scheint die helle Narzissmusfacette – Streben nach Bewunderung, charmantes und selbstbewusstes Auftreten – dabei zu helfen, andere Menschen für sich zu vereinnahmen.

Bildquellen

Bild 1: Callie Gibson via unsplash

Bild 2: engin akyurt via unsplash

Bild 3: Daniele Levis Pelusi via unsplash

Literaturverzeichnis

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